Wie wird man Weltmeister? - Fuball 11FREUNDE
11 Freunde:
Herr Vogts, wie wird man Fußballweltmeister?
Berti Vogts:
Mit einem Team aus selbstbewussten und erfahrenen Spielern, die mit dem Druck eines WM-Turnier klar kommen. So wie wir 1974.
11 Freunde:
Wir erinnern uns: 7. Juli 1974, Tag des WM-Finals. Sie laufen ins Münchner Olympiastadion ein, neben Ihnen die Holländer mit Ihrem Gegenspieler Johan Cruyff. Was geht Ihnen durch den Kopf?
Vogts:
Nichts anderes als bei anderen Spielen auch, die ich gewinnen wollte.
11 Freunde:
Aber Ihnen war doch bewusst, dass es das wichtigste Spiel Ihrer Karriere wird.
Vogts:
Sicher, aber wir hatten nach einer miserablen Vorrunde, eine sehr gute Zwischenrunde gespielt. Und nun war klar: Wir werden Weltmeister.
11 Freunde:
Nach 120 Sekunden liegen Sie 0:1 gegen Holland zurück. Spätestens da müssen Ihnen doch Zweifel gekommen sein?
Vogts:
Nein. Wir wussten, die packen wir. Selbst als ich nach drei Minuten Gelb sehe – und wusste, dass ich nun 87 Minuten gegen Cruyff mit der Belastung spiele – bin ich cool geblieben. Mir war klar, der Schiedsrichter schmeißt mich im eigenen Stadion nicht vom Platz. Diese Erfahrung fehlt dem Team von Jürgen Klinsmann: Gut möglich, dass ein Spieler Probleme kriegt, der im Eröffnungsspiel nach drei Minuten verwarnt wird.
11 Freunde:
Was unterscheidet das Team von 1974 von der heutigen Mannschaft sonst noch?
Vogts:
Wir waren ein verschworene Erfolgsgemeinschaft, die wusste: Man lyncht uns, wenn wir Zweiter werden. Also sind wir mit dem Bewusstsein ins Turnier, dass nur der Titel zählt. Und so kühl sind wir das Unternehmen angegangen: Selbst die Kritik nach der Niederlage gegen die DDR ging uns weitgehend sonst wo vorbei.
11 Freunde:
Wieso waren Sie so sicher? Die Holländer waren spielerisch besser als das deutsche Team.
Vogts:
Mit Borussia Mönchengladbach machten wir damals öfter Freundschaftsspiele gegen die holländische Mannschaft. Deshalb war mir klar: So schön sie auch spielen, die hauen wir weg.
11 Freunde:
Kannten Sie die Taktik der Holländer?
Vogts:
Sie versuchten, unsere Manndecker durch Positionswechsel im Sturm aus dem Abwehrzentrum herauszuziehen, um Franz Beckenbauer als Libero in 1:1‑Situationen zu verwickeln. Rainer Bonhof stand gegen Johan Neeskens und musste zentral dicht machen. Schwarzenbeck hatte es mit Rob Rensenbrink zu tun, der ein echter Linksaußen war. Ich musste dauernd rufen, „Katsche komm rein“, damit Franz nicht allein stand.
11 Freunde:
Wie hat sich Cruyff Ihnen gegenüber verhalten?
Vogts:
Er hat in einer Tour gequatscht, um mich abzulenken. Er spricht gut deutsch und wir kannten uns gut, da wir beide von Puma gesponsert wurden.
11 Freunde:
Wie haben Sie reagiert?
Vogts:
Wenn er anfing zu reden, habe ich gesagt: „Komm, Johan, halt einfach die Schnauze.“ Nach dem Finale hat er dann ein Jahr nicht mehr mit mir geredet. (lacht.)
11 Freunde:
War Cruyff so arrogant, wie oft behauptet wird?
Vogts:
Nein, dafür kannten wir uns zu gut. Aber die Holländer haben nach der Führung bei jedem Ballkontakt versucht, zu zeigen, wie stark sie technisch waren. Sie versuchten, unsere Spieler zu tunneln oder am Standbein vorbei zu spielen. Da ich vom Niederrhein komme, verstehe ich holländisch und hörte, wie sie sich lustig machten.
11 Freunde:
Stimmt es, dass Franz Beckenbauer Helmut Schön überredet hat, Sie als Cruyffs Manndecker einzuteilen?
Vogts:
Nein. Das habe ich in Absprache mit Helmut Schön gemacht. Es gab nur ein Problem: Im Trainingsspiel vorm Finale spielte Günter Netzer die Rolle von Cruyff. Durch Günters große Übersetzung fiel es ihm schwer, Cruyff zu imitieren. Ein Desaster. Aufgrund dieses Trainings ordnete Schön aber an, dass ich Cruyff im Finale erst rund 30 Meter vorm Tor in Manndeckung nehmen sollte.
11 Freunde:
Was haben Sie darauf gesagt?
Vogts:
Mir war klar, dass es ein fataler Fehler ist. Wenn Johan in Ballbesitz war, konnte ihn keiner stoppen. Seine Geschwindigkeit war zu hoch.
11 Freunde: Ist Schön darauf eingegangen?
Vogts:
Nein. Er hat es trotz meines Einspruchs bis zum Spiel durchgeboxt. Ich war sauer. Und nach 120 Sekunden wusste Schön, dass es eine falsche Entscheidung war. Uli Hoeneß konnte ihn nur mit einem Foul stoppen.
11 Freunde:
Die Folge: Elfmeter von Johan Neeskens. 1:0 für Holland.
Vogts:
Nach 10 Minuten bin ich an den Spielfeldrand und habe Schön zugerufen, dass ich jetzt so spielen würde, wie ich es für richtig hielt. Er hat nur resignierend die Hände vors Gesicht geschlagen und akzeptiert (lacht.).
11 Freunde:
Es stimmt also nicht, dass Helmut Schön nach der Niederlage gegen die DDR nichts mehr zu sagen hatte und das Team sich mehr oder weniger selbst aufstellte.
Vogts:
Diese Geschichte ist eine Erfindung der Journalisten – und eine Unverschämtheit. Das Märchen, Franz Beckenbauer habe in Malente auf den Tisch gehauen, ist Blödsinn. Wo wir da gehaust haben, gab es gar keinen Tisch. (lacht.)
11 Freunde:
Sie haben immer gemacht, was Schön gesagt hat?
Vogts:
Wir haben uns nur einmal über seine Anordnungen hinweg gesetzt: Nach der Niederlage gegen die DDR hat er uns um 3 Uhr morgens aufgefordert, ins Bett zu gehen. Zu dem Zeitpunkt waren wir nicht mehr in der Lage zu gehen, so dass noch einige Flaschen gegen die zuschlagende Tür knallten.
11 Freunde:
Wie konnten Sie sich als Höchstleistungssportler erlauben, mitten im WM-Turnier derart zu zechen?
Vogts:
Es musste sein. Wir waren stocksauer, dass wir gegen die Ossis verloren hatten.
11 Freunde:
Wie konnte diese Niederlage passieren?
Vogts:
Ganz einfach: Auf dem Weg ins Volksparkstadion hörten wir im Radio, dass Australien und Chile unentschieden gespielt hatten. Wir waren also schon vor Anpfiff eine Runde weiter. Da stellten wir fest, dass uns als Gruppenerster drohte, mit Argentinien und Brasilien in die Zwischenrunde zu kommen. Mit dieser Einstellung gingen wir ins Spiel.
11 Freunde:
Die Geschichte muss also neu geschrieben werden: Die BRD verlor in Hamburg 1974 absichtlich gegen die DDR!
Vogts:
So war es auch nicht. Wir haben in den ersten Minuten schon ziemlich Druck gemacht. (lacht.) Aber in der Halbzeit waren wir sehr relaxt. Und nach dem Sparwasser-Tor in der 77. Minute war Franz Beckenbauer mehr damit beschäftigt das Publikum zu beschimpfen, als für den Ausgleich zu arbeiten.
11 Freunde:
Warum war Beckenbauer so sauer?
Vogts:
Das Hamburger Volksparstadion war immer ein Problem für die Nationalmannschaft. Die Hanseaten sind sehr distanziert und kritisch. Was meinen Sie, warum in Hamburg nach der Halbfinalniederlage bei der EM 1988 fast 15 Jahre keine Länderspiele ausgetragen wurden.
11 Freunde:
Der DFB sucht die Spielstätten also nach den Zuschauerreaktionen aus?
Vogts:
Im Sinne aller Beteiligten ist das auch richtig so. Durch das neue Stadion hat sich die Stimmung in Hamburg aber deutlich gebessert.
11 Freunde:
Ist es für die Klinsmann-Truppe ein Vorteil, dass die neuen Stadien mehr auf den Fußball zugeschnitten sind?
Vogts:
Auf jeden Fall. Allerdings sehe ich ein anderes Problem beim Reglement dieser WM.
11 Freunde:
Nämlich?
Vogts:
Dass wir das Eröffnungsspiel machen müssen. Auf diesem Spiel lastet ein immenser Druck. Die Brasilianer als Weltmeister können damit umgehen. Aber, ob es das unerfahrene deutsche Team kann, weiß ich nicht.
11 Freunde:
Warum ist das Eröffnungsspiel so schwer?
Vogts:
Einerseits, weil das weltweite Medieninteresse, so unglaublich groß ist. Viel höher, als wenn man zwei Tage später ins Turnier eingreift. Andererseits, weil die Schiedsrichter neue Anweisungen haben und noch etwas unsicher pfeifen.
11 Freunde:
Wie unterscheidet das Turnier 2006 von der WM 1974?
Vogts:
Damals war Deutschland geteilt. Heute müssen wir zeigen, wie gastfreundlich wir auch als gesamtdeutsche Einheit sind. Jeder Ausländer muss das Gefühl bekommen, dass er hier willkommen ist. Ich bin damals mit dem Zug zum Vorrundenspiel gegen Chile nach Berlin gefahren. Ich war 27 und sah zum ersten Mal die DDR – im Vorbeifahren.
11 Freunde:
Wie haben Sie die Zugfahrt empfunden?
Vogts:
Es war seltsam und beeindruckend zugleich. Wir fuhren mit einem Sonderzug. Draußen winkten uns Leute zu, einer hielt seinen Hund hoch. Ich hatte das Gefühl, ich fahre durch Deutschland im Jahr 1918.
11 Freunde:
War 1974 der Beginn der Kommerzialisierung im Weltfußball?
Vogts:
Aus meiner Sicht als Spieler auf jeden Fall. Unsere Prämie war damals viel höher. 1970 haben wir für den dritten Platz 10000 Mark erhalten. 1974 erhielten wir insgesamt 70000.
11 Freunde:
Aber erst nachdem Sie in Malente ordentlich mit dem DFB gefeilscht hatten.
Vogts: (lacht.) Diese Situation werde ich nie vergessen: OK-Präsident Neuberger ließ uns durch Helmut Schön nach dem Abendessen mitteilen, was wir bekommen sollten: 25 000 Mark. Der ganze Kader brach in schallendes Gelächter aus. Wir haben Schön dann gebeten, den Raum zu verlassen, um zu beraten. Er stand auf und wollte abreisen. Er empfand es als Vertrauensbruch. Wir einigten uns auf 100 000 Mark als Forderung. Die Jungen, wie Paul Breitner und Uli Hoeneß, wollten sogar 150 000 Mark.
11 Freunde:
Wie ging das weiter?
Vogts:
Franz Beckenbauer und Günter Netzer haben mit Neuberger telefoniert. Dann wurde in Schritten von 10 000 Mark gezockt. Wir haben uns oben im Besprechungszimmer einen eingeschenkt, während wir auf die Reaktion des DFB warteten. Das ging bis 4 Uhr morgens. Neuberger hat sogar versucht, uns weich zu kochen, indem er ankündigte, andere Spieler nach zu nominieren. Vor dem Finale stellte sich raus, dass der DFB für den Gewinn des Titels 22 grüne VW Käfer Cabrios kriegen sollte. Die wollte der Verband für sich behalten. (lacht.) Da wurde am Donnerstag vorm Finale dann noch mal verhandelt und jeder von uns bekam ein Auto oben drauf.
11 Freunde:
Wann waren Sie nach dem Finale 1974 im Bett?
Vogts:
Ich kam gegen halb nach Hause. (schmunzelt.)
11 Freunde:
Wie exzessiv wurde da gefeiert?
Vogts:
Franz hatte einen Nachtclub für uns Spieler und die Frauen organisiert. Ich bin kein Schampus-Trinker, also gab es auch Whiskey, um wach zu bleiben.
11 Freunde:
Haben Sie es als Nachteil empfunden, dass Ihr Gladbacher Kumpel Günter Netzer das ganze Turnier nur auf der Bank saß?
Vogts:
Ich fand es schade. Günter war zwar völlig außer Form zur WM angereist, aber im Verlaufe des Turniers wurde er immer besser. Es wäre fair gewesen, wenn man ihm nach dem DDR-Spiel noch eine Chance gegeben hätte.
11 Freunde:
Die Geschichte besagt, dass Wolfgang Overath 1974 die bessere Alternative war.
Vogts:
Das ist in der Rückschau der Journalisten so. Aber die Medien haben auch mal geschrieben: „Müller und Seeler können nicht zusammen stürmen.“ Die haben 1970 perfekt harmoniert. Warum hätten Overath und Netzer nicht kooperieren sollen? Wenn man genügend Zeit zum Training hat und die Laufwege der beiden miteinander koordiniert – sie wären ein Traumpaar gewesen. Aber die mangelnde Zeit ist bis heute das große Problem der Nationalmannschaft – nicht nur der deutschen.
11 Freunde:
Ist auch für Klinsmann die Zeit zu knapp, dass Team einzuspielen?
Vogts:
Durch die Vorverlegung des Pokalendspiels hat Jürgen rund zweieinhalb Wochen mehr Vorbereitungszeit als ich bei der WM 1994 und 1998.
11 Freunde:
In dieser Zeit muss es ihm gelingen, dass Team zu koordinieren.
Vogts:
Da kommt es auf jede Einheit an. Deshalb hoffe ich, dass die Nationalmannschaft ihr Trainingslager im Mai auf Sardinien zum Trainieren nutzt und nicht zur Regeneration.
11 Freunde:
Aber die Saison war lang.
Vogts:
Deutsche Fußballer brauchen keine Regeneration. Kein deutscher Fußballer ist so übersäuert und übermüdet. Im Gegenteil, wir trainieren zu wenig. Andere Sportler trainieren täglich sechs Stunden. Und als ich Coach in Leverkusen war, wurde ich angemeckert, weil ich einige Spieler zum individuellen Nachmittagstraining lud. Die Jungs zahlen einen Haufen Geld dafür, ihren Schwung beim Golfabschlag zu verbessern. Aber individuelles Training nach Feierabend auf dem Fußballplatz halten sie für eine Zumutung. Das verstehe ich nicht.
11 Freunde:
Wie kann das sein?
Vogts:
In den Vereinen reden zuviel mit: Berater gehen zu den Geschäftsführern und Managern und beschweren sich. Sowas gibt es in England nicht: Da ist der Trainer Coach und Manager in Personalunion und bestimmt, wer einen neuen Vertrag bekommt.
11 Freunde:
Zurück zur WM. Wie war 1974 die Kameradschaft zwischen dem Block der Bayern und den Gladbacher Spielern?
Vogts:
Im Großen und Ganzen haben wir uns sehr gut verstanden. Auch, wenn ich mit Paul Breitner im ganzen Turnier nicht viel mehr als drei Sätze gesprochen habe.
11 Freunde:
Warum nicht?
Vogts:
Wir waren politisch nicht immer derselben Meinung. (lacht.)
11 Freunde:
Das heißt, unter Fußballern wurde damals tatsächlich über politische Dinge diskutiert.
Vogts:
Wir waren in der Sportschule Malente von der GSG 9 bewacht. Jeden Tag trudelte eine anonyme Bombendrohung ein. Unsere privaten Briefe wurden in einer separaten Turnhalle von einer Spezialeinheit geöffnet. Da redet man schon mal über die Beweggründe von Terroristen.
11 Freunde:
Was war das Schlimmste an Malente?
Vogts:
Dass es nur ein Telefon gab. Wir mussten uns in eine Liste eintragen, wenn wir telefonieren wollten. Und wenn man das Pech hatte, hinter Wolfgang Overath in der Reihe zu stehen, trat man sich die Beine in den Bauch.
11 Freunde:
Trotz der Bewachung durch die GSG9 haben es Spieler geschafft, nachts auf die Reeperbahn auszubüchsen. Wie das?
Vogts:
Ein guter Friseur wirkt manchmal Wunder. Die deutschen Nationalspieler waren schon immer sehr phantasievoll und, soweit ich das beurteilen kann, hat keiner jemals aufgrund von Sportschulen oder Bewachung auf irgendetwas verzichtet.
11 Freunde:
War es ein Vorteil für den Teamgeist, dass sie in Malente so aufeinander gluckten?
Vogts:
Wir kannten es damals nicht anders. Als ich die Nationalmannschaft 1992 erstmals zu einem großen Turnier führte, gingen wir vorher in eine Sportschule. Aber mir wurde klar, dass der neuen Generation so ein Klima nicht mehr vermittelbar war. Die waren aus ihren Vereinen an Hotels gewöhnt. Sie in einer Sportschule zum Team zusammen zu schweißen, war nicht mehr möglich.
11 Freunde:
Herr Vogts, was haben sie als Trainer von Helmut Schön gelernt?
Vogts:
Das Vertrauen in die Menschen. Jeder Spieler ist ein Mensch, dem man Schwächen zugestehen muss. Nur wenn man das weiß, wird man von Spielern nicht enttäuscht.
11 Freunde:
Wäre ein Mann wie Helmut Schön heute in der Rolle des Bundestrainers noch vorstellbar?
Vogts:
In den Umgang mit den Medien muss man hinein wachsen. Helmut Schön war ein hochintelligenter Mann, er wäre in der Lage, sich der heutigen Situation anzupassen. Aber er würde kein Medientrainer sein, dafür war er ein zu distanzierter Mensch.
11 Freunde:
Wo erkennen Sie bei Jürgen Klinsmann Ihre Trainerhandschrift?
Vogts:
Er hat den Willen, mehr mit den Spielern zu machen, als die Vereine ihnen mitgeben. Und er ist bereit, Vertrauen in die Spieler zu setzen.
11 Freunde:
Wie hat sich die Medienpräsenz im Verlaufe der Jahre verändert?
Vogts:
1974 hatten wir eine Kamera beim Training. 1990 wurde Franz Beckenbauer schon sauer, weil RTL und SAT 1 neben ARD und ZDF zusätzlich für das Frühstücksfernsehen berichteten. 1994 war das längst üblich und ich hatte es täglich mit 400 Journalisten zu tun. Gerade Reinhold Beckmann und Johannes B. Kerner, die damals noch bei Sat 1 arbeiteten, attackierten die Nationalmannschaft in täglichen Berichten. Und heute sind das die Schönredner bei ARD und ZDF.
11 Freunde:
Über Ihrer Karriere als Trainer hing ein Satz wie ein Damokles-Schwert. Franz Beckenbauers Aussage nach dem Titelgewinn 1990: „Die deutsche Mannschaft wird auf Jahre hin unschlagbar sein“.
Vogts:
Franz war im Zustand der Glückseligkeit, als er das sagte. Das ging mir sonstwo vorbei. Er kam unmittelbar nach dem Interview in den Mannschaftsbus und sagte: „Berti, ich hab gerade ziemlichen Scheiß erzählt.“ Aber so ist er: Heute erzählt er dies und morgen das genaue Gegenteil. Wir haben schon zusammen in der Jugendauswahl gespielt. Ich weiß ihn zu nehmen.
11 Freunde:
Würden Sie heute noch Bundestrainer sein, wenn die Medien damals anders mit Ihnen umgegangen wären?
Vogts:
Mit meiner heutigen Erfahrung, könnte das gut sein. Aber die Angriffe der Medien waren nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
11 Freunde:
Warum sind Sie sonst zurückgetreten?
Vogts:
Wegen des Konflikts mit DFB-Präsident Mayer-Vorfelder. Nach dem EM-Titel 1996 bin ich beim Verband in die Offensive gegangen und habe gefordert, dass wir mehr Geld in den Nachwuchs investieren müssen. Ich wollte, dass der DFB 21 Trainer in den Landesverbänden einsetzt, die nach meinen Vorgaben Nachwuchsarbeit betreiben. Aber man hat mich nicht ernst genommen. Erst nach dem Aus bei der WM 1998 fand dann langsam ein Umdenken statt.
11 Freunde:
Das Jahr, in dem Sie zurücktraten.
Vogts:
Denn nach der WM 1998 wurde mir von einer großen deutschen Zeitung mitgeteilt, dass sie die Nationalmannschaft so lange attackieren würde, wie ich Trainer bliebe.
11 Freunde:
Welche Fehler haben Sie in dieser Zeit gemacht?
Vogts:
Ich hätte die Medien mehr nutzen müssen, um den Zustand des deutschen Fußballnachwuchs zu bemängeln. Aber ich war dem Verband gegenüber zu loyal.
11 Freunde:
Hat Jürgen Klinsmann mehr Mut gehabt als Sie?
Vogts:
Jürgen hat den Vorteil, dass ich ihm vorab viele Tipps geben konnte, wie Fehler er in der Zusammenarbeit mit dem DFB vermeidet.
11 Freunde:
Hat er Sie konkret danach gefragt?
Vogts:
Ich war 2004 mit meinem Sohn in Kalifornien im Urlaub. Bei einem Besuch in Los Angeles erzählte mir Jürgen, dass Karl Heinz Rummenigge ihn als Manager der Nationalmannschaft ins Gespräch gebracht hätte. Ich wusste von gar nichts. Jürgen sagte, er könne sich beim DFB nur den Trainerjob vorstellen. Ich war überraschte. Dann haben wir eine Nacht lang gequatscht. Seine Ideen gefielen mir und ich habe ihn tags drauf guten Gewissens als Trainer beim DFB vorschlagen.
11 Freunde:
Bei der WM machen Sie für den DFB Spielanalysen. Kann es sein, dass sie noch ein bisschen die Fäden im Hintergrund ziehen?
Vogts:
Nein. Jürgen ist erfahren genug, selbst zu wissen, wie er das Team führt.
11 Freunde:
Finden Sie, dass er den Job gut macht?
Vogts:
Ich bewundere seinen Mut, die Nationalmannschaft zu diesem schwierigen Zeitpunkt zu übernehmen. Ottmar Hitzfeld, Arsene Wenger oder Guus Hiddink hatten alle abgelehnt. Er weiß, dass er nicht so viele Top-Spieler hat. Aber er geht seinen Weg mit aller Konsequenz. Dafür hat er meinen ganzen Respekt.
11 Freunde:
Sie haben als Trainer oft auf alte Spieler gesetzt oder setzen müssen. Zum Beispiel bei der umstrittenen Rückholaktion von Lothar Matthäus vor der WM 1998. Hatten Sie Angst vor der radikalen Verjüngung, wie Klinsmann sie vollzieht?
Vogts:
Als wir 1998 im Viertelfinale ausgeschieden sind, war es ein Desaster. Wenn die Mannschaft 2006 das Viertelfinale erreicht, wird wohl ein eigener Feiertag für diesen Erfolg eingerichtet. (lacht.) Spaß beiseite. Damals gab es nicht so viele interessante, junge Spieler: Durch den Ausfall von Jens Nowotny vor der WM musste ich Thomas Helmer, Olaf Thon und Lothar Matthäus zurückholen. Thon und Helmer waren nicht fit genug, ein Turnier durch zu spielen. Also habe ich mich beim Mannschaftsrat durch gesetzt und Lothar zurück geholt. Ich habe an den Rat appelliert, ihn als Außenseiter zu integrieren. Leider blieb er die ganze Zeit am Rande der Gruppe.
11 Freunde:
Fehlte der Mannschaft von 1994 und 1998 der absolute Erfolgswillen, den Sie 1974 hatten?
Vogts:
1994 haben drei Frauen das Team durcheinander gebracht und damit den Erfolg zunichte gemacht.
11 Freunde:
Sie sprechen von Martina Effenberg, Bianca Illgner und Angela Häßler.
Vogts:
Die Namen haben Sie genannt. Aber richtig ist, dass einige Damen die WM-Mannschaft völlig durcheinander brachten. Dabei hatten wir 1994 einen besseren Kader als vier Jahre vorher. Mit Matthias Sammer, Ulf Kirsten und Stefan Effenberg war das WM-Team um sehr gute Spieler ergänzt worden.
11 Freunde:
Wie konnten drei Frauen soviel Unheil anrichten?
Vogts:
In Absprache mit dem Mannschaftsrat hatten wir vereinbart, dass die Spielerfrauen in einem Traumhotel in der Nähe untergebracht wurden und nach Spielen unseres Teams für eine Nacht im Mannschaftshotel schlafen durften. Aber einige Frauen verlangten sogar, ins Mannschaftshotel ein zu ziehen. Das habe ich untersagt. Dadurch waren betreffende Spieler gedanklich mehr bei den Frauen als bei der Mannschaft.
11 Freunde:
Insofern hatte die frühere Regelung des DFB doch einen Sinn, Spielerfrauen im Lager des Teams nicht zu dulden. Warum wurde das geändert?
Vogts:
Franz Beckenbauer war 1990 verliebt. Er wollte so oft wie möglich mit seiner damaligen Freundin Sybille zusammen sein. Also hat er dafür gesorgt, dass die Frauen leichter Zugang zum Team erhielten. (lacht.)
11 Freunde:
Was ist das größte Problem für ein Team im Verlaufe eines WM-Turniers?
Vogts: Die Spieler müssen sich wohl fühlen. Reizpunkte dürfen nur beim Training aufkommen, nicht in der Freizeit. Deshalb hängt auch so viel vom ersten Spiel ab – gerade beim jungen Team von Jürgen Klinsmann. Wenn wir Costa Rica mit 5:0 aus dem Stadion schießen, besteht die Möglichkeit, dass die Mannschaft von einer Wolke der Begeisterung durchs Turnier getragen wird. Spielen wir 0:0 oder Jens Lehmann macht einen dicken Fehler – was meinen Sie, wie die Mannschaft dann unter Beschuss gerät. Gerade junge Spieler verlieren bei einer mentalen Blockade bis zu 40 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit.
11 Freunde:
1970 waren Sie auch ein junger Spieler?
Vogts:
Ja, aber der Umgang von Medien und Fußballern war ganz anders. Damals schrieb ein Journalist eine schlechte Kritik nach unserem 2:1 gegen Marokko. Der hatte das Pech, bei uns im Hotel zu übernachten. Als er dann im Swimming Pool aufkreuzte, wurde er kurz für einige Sekunden unter Wasser gedrückt. Heute würde man für so was eine Anzeige kassieren.
11 Freunde:
Stichwort: 1970. Ahnten Sie während des Halbfinals gegen Italien, was für eine Bedeutung dieses Spiel später einmal haben sollte?
Vogts: Nein. Damals waren man durch die Höhenlage und die Erschöpfung wie in Trance. Das Turnier in Mexiko war für das Team auch durch die Organisation ein ziemlicher Stress.
11 Freunde:
Trotz der generalstabsmäßigen Planung durch den DFB?
Vogts:
Das war damals noch anders. Nach dem Viertelfinale gegen England in Leon sind wir sechs Stunden mit dem Bus nach Mexiko City gefahren. Da hatte der Verband uns ein Hotel gebucht, was eineinhalb Stunden vom Stadion entfernt lag. Allein durch die Fahrt waren wir so geschlaucht, dass wir gegen Italien schon einigermaßen geschafft aufliefen.
11 Freunde:
Können Sie sich noch erinnern, was Ihnen beim Schlusspfiff gegen Italien 1970 durch den Kopf ging?
Vogts:
Nichts. Ich war einfach nur kaputt.
11 Freunde:
Enttäuschung über die Niederlage?
Vogts:
Nein. Wir waren nur leer.
11 Freunde:
Herr Vogts, was war das schönste Sportereignis Ihres Lebens?
Vogts:
Als Trainer mit der Olympiamannschaft 1984 nach Los Angeles zu fahren. Es war großartig, im olympischen Dorf mit so vielen Sportlern zusammen zu sein.
11 Freunde:
Hatten Sie nach dem WM-Triumph jemals ein Gefühl absoluter Glückseligkeit?
Vogts:
Nein.
11 Freunde:
Warum nicht?
Vogts:
Weil ich ein Spieler mit sehr wenig Talent war und deshalb bei jedem Erfolg wusste, dass am nächsten Morgen die Arbeit weitergeht. Ich besaß eine ordentliche Positionstechnik, die für eine Nummer 2 ausreichend war. Aber ich musste für den Erfolg ständig hart arbeiten.
11 Freunde:
Könnte die deutsche Mannschaft einen Terrier von Ihrer Qualität brauchen?
Vogts:
Sagen wir so, wenn bei der WM vier Leute von meinem Format in der Abwehr stehen würden, sähe ich der WM wesentlich beruhigter entgegen.
11 Freunde:
Wann kommen Sie als Trainer zurück?
Vogts:
Da müssen viele Dinge passen: Ich übernehme keinen Club, bei dem die Vorgabe lautet, einen Titel zu gewinnen. Es muss eine Strategie hinter meiner Verpflichtung stehen. Und das ist in Deutschland nicht möglich.
11 Freunde:
Wieso nicht?
Vogts:
Weil die Vereinspräsidenten hierzulande Fußball-Fans sind und keine Fachleute. Fans leben zu sehr mit den Emotionen und lassen sich in schlechten Phasen schnell von der allgemeinen Stimmung gegen den Trainer aufbringen. Ein Präsident, der ein Fachmann ist, hat eine Vision für den Verein und stellt sich auch in der Krise hinter den Trainer. Ich arbeite mit keinem, der sich als eitler Übervater zelebriert – immer dann, wenn die Mannschaft gewinnt. Und der, wenn sie verliert, anderen die Schuld gibt.
Aus: 11 FREUNDE #55 – seit 24.06. am Kiosk erhältlich!
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